
Eigentlich sollten 14 Stunden Schlaf und ein doppelter Espresso zum getoastet Hünchen-Sandwich genug sein.
Bei der Ankunft gestern in Mumbai standen mein Gehirn und meine Sinne noch unter dem Einfluss eines lang anhaltenden Schlafdefizits plus der üblichen schlaflosen Nacht, in der noch die letzten Dinge erledigt werden müssen, die auf keinen Fall noch liegen bleiben können.
Wie immer, wenn ich das trockene Teheran verlasse, schlug mir die feuchtwarme Luft ins Gesicht, sobald sich die Türen des Flugzeugs nach der Landung öffneten, die Lungen füllten sich mit Dampf und ich glaubte, meine Haut schmatzen zu hören, während sie begierig die Feuchtigkeit aufsaugte.
Während der endlos langen Taxifahrt nickte ich mehrfach ein, aber ich habe den stechenden Gestank von Fäkalien in dem Brackwasser zwischen einer Siedlung mit wackeligen Hütten noch in der Nase, an denen bunte Wäsche zum Trocknen schwer in dem müden Wind schaukelte. Bilder von modernen Hochhäusern, Armstümpfen, die Bettler wie bei einem Raumüberfall durch das geöffnete Fenster das Taxis streckten, Cricket Plätze entlang der Schnellstrasse am Strand, farbenfrohe Saris und Reklametafel, die für einen Aktienfond warben, die scharfkantigen Stimmen, die für mich wie das Gackern ärgerlicher Hühner klangen, sind in Erinnerung geblieben.
Irgendwie gelang es Z, mich noch zu einem Spaziergang zu überreden, der in einem Touristenmarkt endete, wo Schals, Messingteleskope und Schmuck feilgeboten wurden.
Der Tag fand seinen verdienten Abschluss mit einem scharfen Fisch-Curry, das mir die Zunge verbrannte und meine Eingeweide mit einer wohligen Wärme erfüllte. Die beiden Flaschen Cobra verwandelten die bleierne Müdigkeit in eine beschwingte, wache Bewusstlosigkeit. Das Bett war weich und die Klimaanlage surrte.
Ein neuer Tag, der mit dem Vorhaben beginnt, zu Fuß die Stadt zu erkunden. Nach einer halben Stunde wird mir klar, dass es nicht so eine glänzende Idee war, auf die Socken zu verzichten. Der Schweiß läuft mir bei 30 Grad im Schatten den Rücken hinunter. Meine Schuhe werden zu einem glitschigen Feuchtbiotrop, in dem weiche Haut an rauem Leder scheuert. Aber ins Hotel zurück kehren, Socken holen, macht wenig Sinn, denn wenn man solche Sache einmal durchgestanden hat, das Leder weich und die Haut hart geworden sind, dann ist es bekanntlich ein für alle Mal vorbei.
Am Regal Circle gehen wir schon irgendwie verloren, weil wir das National Museum of Modern Art nicht finden können. Auf dem Stadtplan sieht die Mahatma Gandhi Road wie eine nicht zu verfehlende Lebenslinie des Südens von Mumbai aus, aber kaum haben wir ihre Bekanntschaft gemacht, da geht sie auch schon wieder verloren.
So irren wir eine Strasse entlang, in der Buchläden in ihren Schaufenstern spirituelle Literatur anbieten und ein „Tempel des Essens“ zum Gottesdienst einlädt. Wir schlendern an einem kreisförmigen Park entlang, vor dem halbnackte Männer dabei sind, stinkenden Müll in eine Häckselmaschine zu stopfen, aus der unten eine bräunliche Flüssigkeit heraustropft. Wir gehen an Reihen schwarz-gelber Taxis vorbei, in denen es sich die Fahrer in der nachmittäglichen Hitze zu einem kleinen Nickerchen auf den Rückbänken bequem gemacht haben. Wir lernen, die Kinder zu ignorieren, die wie Kletten an uns hängen, um ein paar Rupies zu erbetteln. Wir stehen plötzlich vor der Börse von Mumbai, dem finanziellen Zentrum des wirtschaftlich boomenden Landes, an deren Portal auf einem elektronischen Laufband in roten Lettern die aktuellen Aktienkurse angezeigt werden. Männer in weißen Hemden mit dezenten Streifen, stehen an den Imbissbuden vor dem Eingang und verschlingen keine scharf gewürzte Snacks mit Zwiebeln, Pfefferschoten, gehobeltem Käse und drei verschiedenen Saucen. Dunkelfarbige Männer mit sehnigen Muskeln schieben schwere Holzkarren auf Autoreifen und mit grob geschnitzten Griffen durch die engen Strassen, die ihnen von den allgegenwärtigen hupenden Taxis streitig gemacht werden („Horn please!“ steht auf ihren Stossstangen). Es wächst bei mir die Erkenntnis, dass nicht alle dunkelfarbigen Inder arm sind, aber die Armen meist eine dunkele Hautfarbe besitzen. Wir weichen ganzen Familien aus, die auf dem Bürgersteig kampieren und mit den Fingern aus Aluminiumschalen Reis aßen. Wir landen durch Zufall am Victoria Bahnhof, der jetzt Chhatrapati Shivaj Terminus heißt und laut Reiseführer das Gebäude sein soll, das am ehesten den Geist der Stadt auf den Punkt bringt. Diese Eigenschaft will sich mir nicht entschließen, aber es ist ein imposantes Gebäude mit Türmchen und Zinnen und Balkonen und Fenstern, das den Eindruck erweckt, als habe der Architekt, ein Anhänger viktorianischer Gotik bis in die Knochen, versucht, Elemente der einheimischen Tempelarchitektur und der Bauweise von indischen Moscheen zu integrieren.
Gerüche ziehen an uns vorbei: das stechende säuerliche Aroma von Chutneys wird von der aufdringlichen Süße von Räucherstäbchen überlagert, die salzige faule Schwere, die der Wind vom Meer herüberträgt, mischt sich mit scharfen Gestank der Zweitaktermotoren. Pfeffer, Chili und gerösteter Kardamom steigen an einem Hauseingang in die Nase, zwei Schritte weiter übernehmen die Ausdünstungen eines Abfallhaufens die Oberhand.
Wir stolpern über einen zoroastrischen Tempel, ignorieren die Aufschrift an der kleinen Pforte „For Parsians only“ und befinden uns in mitten eines Feuertempels, in dem ein älterer weißhaariger Mann und eine dürre, kränklich aussehende Frau auf eine Bank sitzen und beten. Ein junger Mann fordert uns barsch auf, sofort den Tempel wieder zu verlassen, weil es sich nicht gehöre, einfach in einen geweihten religiösen Ort einzudringen. Wir können immerhin noch von ihm die Telefonnummer des Vorsitzenden der zoroastrischen Gemeinde in Mumbai erfragen, aber dann ist auch das letzte Quäntchen seiner Beherrschung aufgebraucht und er wirft uns wieder auf die Strasse - eine Enttäuschung, weil ich Z ins Ohr gesetzt hatte, dass wir vielleicht gemeinsam noch einmal nach Mumbai zurückkommen sollten, um eine Geschichte über die Zoroaster zu fotografieren und zu schreiben, die im 10. Jahrhundert vom Iran aus vor dem Druck der islamischen Konformität nach Indien geflohen waren.
Die Enttäuschung wird ein wenig wieder durch die Herzlichkeit der älteren Frau wettgemacht, die in der kleinen Bar an der Kasse sitzt, in der wir uns kurz bei einer Cola ausruhen wollen. Es ist eine sparsam möblierte Kaschemme mit harten Bänken. Auf der Karte stehen ganz oben verschiedene Whiskysorten noch vor Gin und Bier. Männer kommen hierher, um sich einen Kleinen anzutrinken und alle starren auf Z und vor allem auf ihre nackten Beine.
Instinktsicher hat Z die Frau an der Kasse als Iranerin ausgemacht und zettelt mit ihr ein Gespräch an, was gleich die anzüglichen Bemerkungen der Männerrunde zum Ersticken bringt. Mit immer eindringlicherer Stimme lädt uns die Frau zu sich nach Hause ein. Wir sollen den Ehemann, die Kinder kennenlernen und vom Iran erzählen. Nur mit einer Notlüge können wir uns frei machen und gehen mit großen Schritten, bis wir aus ihrer Sichtweite verschwunden sein müssen.
Ein von einem Ochsen gezogener Karren rumpelte aus einer Seitenstrasse mit auf die lebhafte Kreuzung als wenn es sein natürliches Recht wäre und lässt sich auch von dem Hupen nicht aus der Ruhe bringen. An einer Überführung steigen wir die Treppen hinunter und landen mit im Schlafzimmer einer mehrköpfigen Familie, die sich unter der Treppe eingerichtet hat. Die Frau rührt in einem Topf und widmet uns keines Blickes. Drei Männerliegen auf Tüchern und spielen Karten. Die Blicke der Kinder sind eine Mischung aus Neugier und Feindseligkeit.
Wir schauen den Jungen zu, die auf einem Platz Cricket spielen, auf dem das Gedränge so groß ist, dass Mannschaften kreuz und quer ihre Bälle über das Spielfeld des Nachbarn schlagen. Staub hängt unter der brennenden Sonne in der Luft, aber es gibt weit und breit keinen Erfrischungsstand zu sehen. 500 Meter weiter finden wir eine Filiale von Gelato Italiano, die Eissorten wie Japanese Melon, Blue Sky, Whisky, Swiss Chocolate oder Schwarzwälder Kirschtorte anbietet und Preise verlangt, die weit über dem liegen, was der mobile Getränkeverkäufer, der durch die Schaufensterscheibe am Sandstrand auf der anderen Seite der Schnellstrasse unter dem bunten Sonnenschirm am Sandstrand an einem halben Tag verdienen wird.
Wir kommen an einer Lebensgroßen Statue von Mahadma Ghandi vorbei, mit der Eduard Wrath, Bildhauer in der dritten Generation als Ausweis für sein Fertigkeiten bei der Anfertigung von Abbildern berühmter Persönlichkeiten für sich wirbt, und der letzte Rest unserer Neugierde lässt uns eine kleinen Anhöhe zum Mahalaxmi Mandir hinaufklettern, einem Hindu Tempel, der der Göttin des Wohlstandes, Mahalaxmi, geweiht ist. Wohlstand klingt nach all dem Gerenne nach Entspannung und Behaglichkeit, scheint aber für die Uneingeweihten nicht ganz ohne Mühe zu erreichen zu sein. Ein Mann auf der Strasse hat uns den Aufzug empfohlen („Up and down, up and down. Just one Rupee.“), aber irgendwie haben wir den Einstieg verpasst und schnauben die Stufen hinauf. Unter dem strengen Blick der beiden Sicherheitsbeamten geben wir unsere Schuhe bei einer kleinen, dürren Aufseherin ab und gehen in das Innere des Tempels, um stumm vor Staunen den fremdartigen Ritualen zuzuschauen. Z wird von einem der Gläubigen, einem älteren Herren, ermuntert, mit ihm in den Innenraum zu gehen, wo Betende niederknien und Blumengebinde niederlegen. Z kommt mit einer braunen Paste auf der Stirn, die wie getrockneter Senf aussieht zurück.
Wir finden schließlich die Strasse hinunter den Buchladen, der laut Reiseführer das beste Sortiment in ganz Mumbai haben soll. Nun, er sieht ein wenig wie die Mini-Ausgabe von Hugendubel oder Barnes & Nobles am Union Square in New York aus, erweist sich aber beim näheren Hinsehen als eine Enttäuschung. Kaum Literatur zur Zeitgeschichte, weder Indien noch Pakistan oder Afghanistan oder andere Länder in der Region. Nichts zur zeitgenössischen Kunst in Indien, und auch die Belletristik Abteilung, die auf den ersten Blick Fülle vortäuscht, führt nicht mal die gängigen Romane über Mumbai.
Neben der Koje mit Kochbüchern entdecke ich auf dem Boden einen Stapel mit Hitlers Mein Kampf. In der guten Stunde, die wir in dem Buchladen zugebracht haben, habe ich aber keinen Besucher gesehen, der den Stapel irgendeine Beachtung geschenkt hätte oder auch nur eines der Exemplare in die Hand genommen hätte.
Für einen Tag ist es genug. Nur der Hunger treibt uns nach einer Dusche am Abend noch einmal aus dem Hotel. Wir finden ein kleines Lokal in einer Seitenstrasse, das bei Einheimischen wie bei Expatriots beliebt zu sein scheint. Ich bestelle Huhn mit Knoblauch und eine große Flasche Kingfisher. Die Schärfe des Gerichts läst noch einmal meine Sinne tanzen, bevor eine behagliche Wärme es sich im Inneren meines Körpers bequem macht.
Im Bett peinigt mich ein Zahn, der späte Rache dafür übt, dass ich heute morgen meinen Toast auf der rechten, auf seiner Seite gekaut habe. Nach längerem Hin- und Herwälzen meldet sich der Muskel in meinem linken Oberschenkel zu Wort, den ich mir beim Fußballspielen in Teheran gezerrt hatte und auch meine brennenden Füße verlangen Gehör. Zwischen den dreien entflammt sich ein Zwist, wer einen größeren Anspruch darauf hat, wahrgenommen zu werden.
Ich bin viel zu müde, an einem solchen Streit teilzunehmen, überlasse ihnen die Rauferei und sinke in einen tiefen und wie immer traumlosen Schlaf.