Mustafa besitzt zu fast jeder Frage eine fest gefügte Meinung. Das Problem besteht darin, dass er gleich mehrere Meinung zur selben Frage besitzt, die nicht immer miteinander harmonieren.
Technik beispielsweise. „Ich bin dafür, dass all die Technik abgeschafft wird. Die meisten Probleme auf dieser Welt werden durch Technik verursacht“, erzählt er mir unaufgefordert, während wir entlang der Vali-ye-Asr nach einem Cafe suchen, wo wir uns ungestört unterhalten können.
„Wie, Technik? Computer? Autos? Alles?“
„Ja. Ohne Technik waren die Menschen glücklicher. Das Leben war überschaubarer. Es gab keine Hetze, keinen Druck. Sie lebten beschaulicher, zufriedener.“
„Und sie starben an Krankheiten, die heute leicht zu heilen sind, mussten für ihre Ernährung viel härter arbeiten und froren im Winter und schwitzten im Sommer.“
„Das muss man in Kauf nehmen“, lautet Mustafas Antwort. „In der Summe waren sie aber glücklicher.“
Auch mit meinem Einwand, dass das Reisen viel beschwerlicher war, und der Horizont der Menschen wesentlich beschränkter war, kann ich nicht landen, denn Mustafa wechselt behände den Standpunkt. Er habe mehrere Jahre in England und in Schottland verbracht, was ihm großartig gefallen habe. In der Zeit hat er sein Englisch gelernt, was ihm jetzt als Englischlehrer zu gute kommt.
Er habe eine neue Unterrichtsmethode entwickelt, erzählt er, als wir endlich das passende Cafe gefunden haben. „Ich zeige amerikanische Filme in der Originalsprache. Das motiviert.“
Mustafa liebt amerikanische Filme. Nicht nur Filme. Beispielsweise auch Computer, die aber nicht notgedrungen amerikanisch sein müssen. Sein Handy klingelt und ich warte, bis er sein Gespräch beendet hat. Lassen wir das mit der Technik und der Glückseligkeit der Menschen.
Wir finden einen Tisch im Obergeschoss des Cafes, das offensichtlich in erster Linie von Studenten frequentiert wird. Junge Paare sitzen an den kleinen Tischen und tuscheln miteinander. Die Frauen sind meist modisch gekleidet, was Mustafa mit Wohlgefallen zur Kenntnis nimmt.
Gelegentlich schreibe er auch für Zeitungen, konservative Blätter natürlich. Sein letzter Artikel habe davon gehandelt, dass viele Probleme der iranischen Gesellschaft kuriert werden könnten, wenn die Frauen nicht berufstätig sein, sondern sich um die Kinder kümmern würden. Kinder brauchten Zuneigung und Aufsicht. Natürlich hätten Männer und Frauen gleiche Rechte, aber es gebe auch eine Aufgabenverteilung.
Ich lasse mich dazu hinreißen, über den Unterschied zwischen Aufsicht und Erziehung zur Selbstständigkeit ausschweifend zu referieren. Ich bin Vater. Ich weiß, wovon ich rede.
Apropos Vater (Mustafa bestellt für mich ein Eis): sein Vater sei ein hohes Tier an der Universität. Er habe seiner Familie erzählt, dass er sich mit einem ausländischen Journalisten treffe und seine Familie habe ihn gewarnt. Ausländische Journalisten würden vom Geheimdienst überwacht und er könne in Schwierigkeiten geraten.
Das ist eine erfreuliche Wendung. Eigentlich hatte ich gedacht, dass mich mein Kontakt mit Mustafa in Schwierigkeiten bringen könnte. Seine politischen Freunde sind dafür bekannt, bei Demonstrationen der Reformer als Schlägertrupps aufzutauchen und erbarmungslos dazwischen zu schlagen. Auf Journalisten haben sie ein besonderes Augenmerk.
Als der Kellner jedem von uns drei große Kugeln Eis bringt ist eigentlich die Gelegenheit gekommen, über unser eigentliches Thema zu reden. Die Unterschriften bei der letzten Demonstration seien von Freiwilligen gesammelt worden, die bereit seien, für die Sache ihr Leben zu Opfern. Die Aktion sei von seinem Onkel initiiert worden. Rund 2.000 Unterschriften seien schon gesammelt worden. Man habe die Wahl: man könne sich für den Einsatz gegen die US Besatzer im Irak oder für den Einsatz für die Sache der Palästinenser oder man könne sich melden, um die Fatwa, das von Ayatollah Khomeini ausgesprochene Todesurteil, gegen Salman Rushdie zu vollstrecken.
Nein, Ausbildungslager gebe es noch nicht. Das ganze sei auch mehr eine politische Demonstration. Die Regierung werde es nicht zulassen, dass die Selbstmordkommandos tatsächlich aktiv werden. Sie habe zu viel Angst, Schwierigkeiten mit den Amerikanern zu bekommen.
Ob er mich denn mit seinem Onkel oder irgendwelchen anderen Organisatoren bekannt machen könne? Aber gern. Er müsse sie halt nur fragen, ob sie auch dazu bereit sind.
„Ich bin auch bereit, für die Sache mein Leben zu Opfern“, platzt es schließlich aus ihm heraus, weil er wohl nicht mehr warten kann, bis ich ihn frage, ob auch er dabei ist. „Ich weiß nicht, ob ich in der letzten Minute wirklich dazu in der Lage wäre“, schränkt Mustafa ein, „aber melden würde ich mich schon“.
Das Eis hat plötzlich einen eigentümlichen Geschmack. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll.
„Ich bin aber kein Terrorist“, unterbricht Mustafa die eingetretene Still, die auch ihm unbehaglich ist.
Es folgt ein längerer Exkurs über die Schändung der Heiligtümer der Schiiten in Najaf und Kerbala, die kein Rechtgläubiger hinnehmen könne, und eine längere Triade gegen die Zionisten, die sich an irgendeinem Punkt mit den Amerikanern zu einem argumentativen Knäuel verwirren. Die Amerikaner agieren im Irak im Auftrag der Zionisten oder die Zionisten unterjochen die Palästinenser im Auftrag der Amerikaner. Oder umgekehrt.
Hitziger als ich es sollte, wende ich ein, dass ich schon einen großen Unterschied zwischen einer Befreiungsbewegung und Terroristen sehe. Widerstand gegen die Amerikaner zu leisten sei eine Sache, mit einer Bombe in ein Cafe in Tel Aviv zu marschieren oder das World Trade Center in die Luft zu jagen eine andere.
Weil ich mich schon mal in Rage geredet habe und weil Mustafa wenig verbalen Widerstand leistet, füg ich auch gleich noch hinzu, dass mir die Kritik an den USA und Israel wesentlich glaubwürdiger erscheinen würde, wenn gelegentlich auch mal die Verhältnisse im Iran kritisiert würden, die sicher alles andere als rosig seien.
Auch dazu besitzt Mustafa eine Meinung. Er geißelt Schlendrian, Korruption, Inkompetenz, zeigt sich angewidert von den „Mullahs“, die sich in großen Limousinen zum Freitagsgebet chauffieren lassen, und es stellt sich heraus, dass er die Absetzung des Filmes „Mamurak“, der milde Kritik an der verknöcherten Klerikerkaste übt, „absolut bescheuert“ findet.
Bevor sich aber allzu große Einmütigkeit einzustellen droht, spricht Mustafa einen Gedanken laut aus, dem er gerade nachzujagen versucht: „Sunniten sind alle Feiglinge!“ Er schaut in mein erstauntes Gesicht und schiebt mir den Aschenbecher herüber. „Sie lassen sich von jedermann herumkommandieren. Erst von Saddam, jetzt von den Amerikanern.“
Und die Schiiten sind anders?
„Schiiten sind Kämpfer. Jeder richtige Schiit kämpft für die Unterdrückten, die Schwachen. Das ist das, was uns von den Sunniten unterscheidet. Ayatollah Khomeini hat für die Befreiung von den Kolonialherren gekämpft. Er war ein wahrer Schiit. Scheich Hassan Nasrallah (der Führer der libanesischen Hizbollah) ist ein Schiit.“
Und dann ist da noch etwas.
„Ich würde auch mit einem Gewehr in der Hand gegen einen amerikanischen Panzer kämpfen. Auf offener Strasse. Es ist nicht so wichtig, ob ich dabei ums Leben komme. Es kommt darauf an, den Amerikanern zu zeigen, dass wir keine Angst vor ihnen haben.
Alle kriechen vor ihnen. Die Supermacht! Sogar Europa kneift vor ihnen den Schwanz ein. Ich habe keine Angst.“
Ich kann mir nicht helfen, aber Mustafa ist mir trotz seiner Posen, seines Maulheldentums, seiner Gewaltbereitschaft und seines Antisemitismus sympathisch. Es springt einem ins Gesicht, wie sehr er darum bemüht ist zu gefallen und anerkannt zu werden.
Natürlich hat er mein Eis trotz all meiner Proteste mitbezahlt („Das ist iranische Gastfreundlichkeit!“) und als ich nur vor dem Schaufenster eines Computer-Software-Geschäftes stehen blieb, beeilte er sich, für mich in dem Laden das zu finden, wonach ich suchte. Ich hatte zuvor erwähnt, dass ich ein bestimmtes Buch in einer Buchhandlung in der Nähe kaufen wollte, aber nicht weiß, wo die Buchhandlung genau ist. Mustafa begann aus eigener Initiative, sich bei Passanten zu erkundigen, und war sichtlich betrübt, als wir den Laden nicht finden konnten.
„Ich möchte dir zeigen, was ein wirklicher Schiit ist“, verteidigte er seinen Eifer, wenn ich ihn von so viel ungebetener Hilfe abhalten wollte. In Wirklichkeit wollte er natürlich zeigen, was für ein freundlicher Mensch er ist.
Aber seine hilfloses Bemühen um Anerkennung ist es nicht allein, was mich für ihn einnimmt. Hinzu kommen sein romantischer Glauben an eine bessere Welt, die sich für ihn in ein einfaches Schwarz und Weiß einteilt, sein festes Vertrauen darin, mit dem guten Willen Berge versetzen zu können und seine völlige Ignoranz gegenüber der Realität.
Als ich 14 Jahre alt war, teilte sich auch meine Welt in das „Establishment“ (sprich: die Bösen) und die Guten, eine irgendwie diffuse Gruppe, die in der Regel an der Länge der Haare, der Art der Kleidung und am Musikgeschmack zu erkennen waren. An der Wand meines Zimmers hing neben Che Guevara ein Poster mit der Parole „Macht kaputt was euch kaputt macht!“. Ich hatte Freunde, die das Emblem der Baader-Meinhof-Gruppe auf dem Parka aufgenäht hatten, und gemeinsam schwärmten wir zur Musik von Hendrix vom „bewaffneten Kampf“. Gleichzeit war ich damals schon fest entschlossen, den Kriegsdienst zu verweigern, weil ich Gewalt eigentlich grundsätzlich ablehnte. Natürlich war ich gegen den Vietnam Krieg, empörte mich darüber, wenn Demonstranten verprügelt wurden und bewunderte im Stillen die vermummten Gestalten, die Steine gegen Polizisten warfen.
Anders als Mustafa, der die Idole seiner Gesellschaft an Radikalität noch zu übertreffen versucht, rebellierte ich freilich gegen alles, was irgendwie als Autorität galt, und spätestens mit dem Mord an Schleyer hatte die Schwärmerei für Gewalt für mich ein Ende. Und ich war damals 14. Er ist heute 24.
Zum Abschied schenkte mir Mustafa ein Plakat, das er wiederum geschenkt bekommen hatte. Es zeigt einen jungen Mann mit muskulösem nacktem Oberkörper. Auf dem Kopf eine Militärkappe, auf der Schulter eine Panzerabwehrrakete. Daneben steht in Englisch, Arabisch und Farsi: „Wir leisten Widerstand.“
Als er mich danach fragt, wohin mich das Taxi bringen soll, nenne ich eine Adresse, die ein Stück weit von meiner Wohnung entfernt liegt. Es wäre mir nicht so recht, wenn Mustafa unerwartet vor meiner Tür stehen würde.